Heinrich Josef Ernst (1923 - 1943)


Vorwort

Bei Heinrich Josef Ernst handelt es sich um keinen direkten Vorfahren, sondern um meinen Onkel väterlicherseits. Das soll jedoch kein Hinderungsgrund sein, an dieser Stelle ausführlich über ihn zu berichten. Hierfür gibt es wieder zwei Gründe. Der erste ist - wie könnte es anders sein - wieder einmal die Sammelleidenschaft meines Vaters. Er hat praktisch alles aufgehoben, was an seinen Bruder erinnert und das Ergebnis dieser Sammlung ist einfach zu schade, um es in der Versenkung verschwinden zu lassen. Der zweite Grund ist aber ungleich gewichtiger: Das Schicksal meines Onkels Heinrich ist eines, das von Tausenden, wenn nicht sogar Millionen junger Menschen unfreiwillig geteilt wurde. Ich meine, man darf diese Schicksale nicht einfach der Vergessenheit preisgeben. Schon gar nicht dann, wenn man - wie ich - die Chance hat, sie aufgrund der noch vorhandenen Unterlagen zu bewahren, aufzubereiten und an die nächste Generation weiter zu vermitteln. Ich habe meinen Onkel wegen seines frühen Todes leider nie persönlich kennen gelernt. Aufgrund der hinterlassen persönlichen Aufzeichnungen kann ich aber auch so feststellen, dass wir uns bestimmt gut verstanden hätten. Auch er hatte zum Beispiel die Eigenschaft, alle möglichen Dinge, mögen sie auf den ersten Blick noch so banal erscheinen mögen, aufzuschreiben und geordnet aufzubewahren. Dazu hatte er noch das Glück, einen Bruder zu haben, der nach dem eigenen Tod diese Arbeit fortsetzte. So haben wir von diesem kurzen Leben zahlreiche Bausteine, die wir wie bei einem Puzzle nur ordentlich  zusammensetzen müssen, um am Ende ein Bild zu bekommen, dass uns plastisch vor Augen führt, wie ein junger Mensch - stellvertretend für eine ganze Generation - die Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg und den Krieg selbst erlebt hat.


Geburt und Kindheit

Auszug aus Kirchenbuch St. Johannes:

Seite: 144
Nummer: 42
geb.: 9. Oktober 1923, 19:00
get.: 14. Oktober 1923
Vater: Ernst, Georg Adam, Maurer aus Kirdorf, verh., kath.
Mutter: Hett, Elisabeth, aus Kirdorf, verh. kath. 
Pate: Faller, Heinrich
Unterschrift: Pfarrer Keutner,
taufender Geistlicher: Kaplan Hauck
Todestag: 23.3.1943 in bello im Osten

Heinrich Josef Ernst kam am 09.10.1923 als erstes Kind der Eheleute Georg Adam Ernst und Elisabeth Ernst geb. Hett in Kirdorf zur Welt. Kurzer Rückblick: Es ist die Zeit, als die Inflation sich gerade anschickt, ihren Höhepunkt zu erreichen (vgl. vorangegangenes Kapitel). Die junge Familie wohnt zu diesem Zeitpunkt in dem kleinen Häuschen "Am Kirchberg 21". Das folgende Bild zeigt ihn zusammen mit seinem jüngeren Bruder Herbert und Mutter Elisabeth:

von links: 
Heinrich Josef Ernst, Elisabeth Ernst geb. Hett, Herbert Ernst


Das erste/älteste Bild dürfte wohl das aus dem Kindergarten sein, es entstand wohl um 1928/29 im/am Schwesternhaus in Kirdorf:

Heinrich Ernst = 3. Reihe von oben, 8. v. links
Kindergarten - Schwesternhaus
1928 - 1929


Vom 1. April 1930 bis 31. März 1938  besuchte er die damals gerade neu errichtete Bürgerschule III in Kirdorf, die heutige Ketteler-Francke-Schule. Wohl kurz nach der Einschulung ist das folgende Bild entstanden, das den Jahrgang 1923/24 zusammen mit der damaligen Klassenlehrerin Frl. Wagner zeigt. Das Bild ist am Rabenstein aufgenommen, auf den Stufen vor dem Ehrenmal für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges. Heinrich ist der kleine Junge in der obersten Reihe ganz links.

 

Schulklasse Kirdorf
Jahrgang 1928 - 1929 
mit Lehrerin Frl. Wagner 
Rabenstein, Kirdorf


Nächster "Meilenstein": Weißer Sonntag. Das Bild entstand im Garten des Hauses Friedberger Straße 12 .

Heinrich Ernst
Weißer Sonntag 
aufgenommen im Garten Friedberger Str. 12


Jungendjahre

Am 11. April 1938 begann er eine Lehre bei der Kunst- und Bauschlosserei Valentin Jäger (Haingasse, Bad Homburg), die er am 06. Mai 1941 erfolgreich abschloss. Seine Hobbys waren unter anderem: Kino, sowie das Sammeln von Briefmarken, Filmprogrammen und Postkarten.

Aus der Zeit in oder um 1938 herum entstanden auch die folgenden Bilder. Das erste Bild zeigt eine Gruppe Kirdorfer Jugendlicher in Faschingskostümen:

Hintere Reihe von links nach rechts (aus der Erinnerung, nicht absolut sicher und vollständig): Rödelbronn; Borig, Liesel; Denfeld, Elisabeth; Horneck, Ria;  Krämer, Hans (Bäcker-Krämer). Vordere Reihe von links: Reitzel, Hans; Holler ?; Spiekermann, Hildegard, geb. Steiper, ; Köhler, ?; Langhammer, Hanna, geb. Leimbold; ?; Ernst, Heinrich.


Das nächste Bild zeigt einen beliebten Treffpunkt der damaligen Jugend: Den Rabenstein:

Hintere Reihe: Wehrheim (Butteraugust); Rauch, Hans; Lauth, August; Hett, Maurus; Ernst, Herbert; ?; ?. Vordere Reihe von links: Höchler, Heinz; Scheffer, Rudi; Wehrheim, Karl (Harzer-Karl); Horneck, Berta;  ??. G ganz vorne: Schickling, Wilhelm; Denfeld ?; Drüschler ?


Im Garten des Anwesens Friedberger Straße 12 entstanden folgende Bilder:

 

 


Die "Kennkarte", ausgestellt am 5. Dezember 1941, sieht wie folgt aus:

Heinrich Ernst
Kennkarte Deutsches Reich
ausgestellt am 5. Dez. 1941 
in Bad Homburg vdH.


 

Auf dem letzten Bild in Zivil sehen wir Heinrich Ernst wie folgt. 

 


Der Zweite Weltkrieg

Der Krieg begann für Heinrich mit seiner Einstellung zur Wehrmacht am 19. April 1942. Seine Einheit war die 4.M.G.Ers.Kp.36 (= 4. Maschinen-Gewehr Ersatzkompanie 36) in Friedberg, Hessen. 

 

Der erste Einsatz führte ihn an die französische Atlantikküste. Auftrag der Einheit war bis 25.1.1943 der "Küstenschutz". Anschließend erfolgte die Verlegung an die Ostfront, wo Heinrich am 23.3.1943 bei Welobujewka fiel. Er wurde auf dem Soldatenfriedhof Wesselys (Donez) beigesetzt. Am 26.8.2002 erhielten wir die Nachricht als Berlin, daß Heinrich umgebettet wurde. Die Grablage lautet jetzt: Deutscher Soldatenfriedhof Charkow, Ukraine, Block 11 Reihe 16, Grab 797. Zusammen mit dieser Nachricht wurde uns ein kleiner Siegelring zugesandt, der dem Schreiben zufolge bei Heinrich gefunden worden sein soll. Wir können den Ring aber nicht so recht einordnen, weil er a) für eine Männerhand viel zu klein ist und b) die Initialen nicht mit denen von Heinrich übereinstimmen:


Abschriften v. Feldpostbriefen 

Südfrankreich, 15.05.42

Liebe Eltern und Bruder, 

am 03.Mai um 1/2 Vier Uhr fuhren wir in Friedberg ab, Über 
Bonames, Eschersheim und Frankfurt-Süd. Nach 50 Stunden 
Bahnfahrt kamen wir in einer Stadt Südfrankreichs an. Nach einem 
Tag Aufenthalt ging es weiter.

Am 7. Mai machten wir einen Gepäckmarsch von ungefähr 50 km bei 
30° Wärme. Wie es dabei ist, wird Vater am besten wissen. Das 
einzige ist der Durst. Wasser und Wein dürfen wir nicht trinken. 
Nach einigen Tagen Aufenthalt ging es wieder 11 km weiter, immer 
feldmarschmäßig mit Tournister.

Am 14.05. sind wir in einer kleinen Stadt Südfrankreichs 
angekommen, wo wir drei bis vier Tage Rast machen. Dann geht es 
wieder weiter, wohin wissen wir nicht.

Schreibt bitte noch nicht, da wir noch keinen festen Standort 
haben. Seid alle gegrüßt von 

Heinrich


Im Westen, den 24.05.1942


Liebe Eltern,

mir geht es noch sehr gut. Wir werden jetzt hier längere Zeit 
bleiben. Hier ist es sehr warm. Das Essen ist sehr gut, auch 
gibt es viele Kirschen und Erdbeeren, Schokolade und Wein, auch 
Zigaretten und Zigarren. Nur der Dienst ist sehr streng. Von 
morgens 6 bis abends 6 Uhr. 

An Pfingsten hatten wir Alarmbereitschaft und durften nicht 
ausgehen. Hier gibt es noch alles zu kaufen. In der letzten 
Woche sind wir viel marschiert und hatten viele Nacht Übungen.
Sonst geht es mir noch sehr gut, was ich auch bei Euch hoffe.
Die Feldpostnummer 23015 E werden wir behalten.

Seid herzlich gegrüßt von Eurem Sohn Heinrich. Bitte Antwort!


Auf der Fahrt, 20.02.43

Liebe Eltern und Bruder,

In der Nacht vom 19. auf 20.02.1943 fuhren wir durch Ffm.-Ost 
und hatten dort eine halbe Stunde Aufenthalt. Dann fuhren wir 
bis nach Hanau. Dort hatten wir wieder eine Stunde Aufenthalt. 
Jetzt befinden wir uns auf der Strecke Erfurth - Halle - Berlin.
Die Fahrt wird noch einige wenige Tage dauern. Wo wir hinkommen, 
wissen wir noch nicht. Wahrscheinlich nach der Südfront. Werde 
Euch noch einmal schreiben. Es grüßt Euch alle recht herzlich 

Heinrich

Auf der Fahrt, 20.02.43
Mylowitz

Liebe Eltern und Bruder,

die besten Grüße auf der Fahrt nach dem Osten sendet Euch 
Heinrich. Mir geht es noch sehr gut. Von Halle aus sind wir 
weitergefahren nach Lugau, Finsternwalde, Calau, Cottbus, Sagan, 
Breslau, Kleiwitz, Hindenburg, Ruda, Mallowitz nach Mylowitz. 
Jetzt sind wir schon in Polen. Das Wetter ist noch ganz gut, nur 
ein bißchen kalt. Schnee liegt hier fast gar keiner. Ich will 
jetzt schließen, denn die Fahrt geht gleich weiter. 

Seid recht herzlich gegrüßt von Eurem Sohn Heinrich.


im Osten, 01.03.43

Nach dem ersten Gefecht am 01.03.1943

Liebe Eltern und Bruder,

die besten Grüße aus dem Osten sendet Euch Euer Sohn Heinrich. 
Heute, am 01.03.43 habe ich Euren Brief vom 11.02.1943 erhalten 
und mich sehr darüber gefreut. Euer Postgeld habe ich nicht 
erhalten, da wir schon aus Frankreich weg waren. 

Heute Nacht haben wir unsere Feuertaufe erhalten. Der Kampf 
dauerte ungefähr 9 Stunden. Die Russen hatten uns fast ganz 
eingeschlossen. Wir haben uns aber wieder 'rausgehauen. Das 
Gefecht war kurz, aber hart. Die Russen kamen mit Panzern an, 
wovon wir 7 Stück abgeschossen oder vernichtet haben. Es ist ein 
ganz komisches Gefühl, wenn ein Panzer an einem vorbeirollt und 
man nichts machen kann. Die Russen hatten schwere Verluste an 
Menschen und Material.

Liebe Eltern, mußte diesen Brief abbrechen, da wir wieder 
marschieren müssen. 

Heute, am 08.03., nach unserem zweiten Einsatz, habe ich endlich 
Gelegenheit, diesen Brief zu Ende zu schreiben. Das Wetter bei 
uns ist nicht gerade schön. 1/2 m Schnee, eisiger Wind und noch 
ziemlich kalt dazu. Was da ein Vormarsch bedeutet, könnt Ihr 
Euch ja vorstellen. Besonders bei Nacht kann man sich leicht 
verlaufen, den Russland ist groß und in seinen weiten Steppen 
und Urwäldern kann man sich leicht verirren. Wir sind heute 
einen Tag in Ruhe gewesen und heute nacht lösen wir wieder ab. 
Post habe ich noch keine von Euch erhalten, bis auf einen Brief. 
Ich will jetzt schließen, denn ich will noch ein wenig schlafen.

Mit Gottes Segen gehen wir in den Kampf um die Freiheit Europas, 
denn dieser Kampf muß zu Ende gehen. Seid alle recht herzlich 
gegrüßt und auf ein gesundes Wiedersehen in der Heimat von Eurem 
Sohn 

Heinrich


Im Osten, den 18.03.1943

Liebe Eltern und Bruder, 

die besten Grüße aus der fernen Heimat sendet Euch Euer Sohn 
Heinrich. Mir geht es noch sehr gut, was ich auch von Euch 
hoffen will. Habe gerade einmal wieder Gelegenheit, Euch ein 
paar Zeilen zu schreiben. Bis jetzt habe ich noch keine Post von 
Euch erhalten, bis auf einen Brief vom 14.02.1943. Warte jeden 
Tag auf Post und immer ist nichts dabei. Will hoffen, daß ich in 
der nächsten Zeit mehr Post bekomme.

Das Wetter bei uns sieht nicht gerade nach Frühling aus. Wir 
haben immer noch 40 cm Schnee. Bei Tag scheint die Sonne und bei 
Nacht friert es wieder. Das Essen ist hier aber noch einiger- 
maßen besser als in Frankreich. Letzte Woche habe ich wieder 
einmal Schokolade gegessen, was ich in Frankreich weniger ge- 
sehen habe. 

Wir liegen eben in Verteidigung und warten bis die Schlamm- 
periode vorüber ist. Sonst weiß ich keine Neuigkeiten zu 
schreiben. Die meisten von meinen Kameraden sind schon ver- 
wundet. Ich will jetzt schließen, in der Hoffnung, daß ich etwas 
von Euch hören werde. Seid weiterhin herzlich gegrüßt von Eurem 
Sohn Heinrich.


Im Osten, 21.03.1943

Liebe Eltern und Bruder,

die besten Grüße aus der fernen Heimat sendet Euch Euer Sohn 
Heinrich. Mir geht es noch sehr gut, was ich auch von Euch 
hoffen will. Wir haben gerade Sonntag und ein wenig Zeit zum 
Schreiben.

Sollten wieder die Päckchen frei werden, so könnt Ihr gleich 
einige laufen lassen - und wenn es nur 100 g sind, denn hier 
gibt es nur abends warmes Essen und bei Tag ein bißchen Brot und 
Butter oder Wurst. Wenn man den ganzen Tag in der frischen Luft 
ist, gibt es einen ganz schönen Hunger und das warme Essen langt 
auch nicht. Heute ist es bei uns hier vorne ruhig, nur ab und zu 
fällt einmal ein Schuß. Alles liegt hier in Sonntagsfrieden und 
man merkt gar nicht, daß wir Krieg haben.

Habe mir die Füße und Hände ein bißchen erfroren. Waschen kann 
man sich hier überhaupt nicht. Wir haben Hände wie die Schorn- 
steinfeger. Wir wären alle froh, wenn der ganze Schwindel vorbei 
wäre, denn man fühlt sich gar nicht mehr wie ein Mensch. Das 
Leben in Frankreich war Gold dagegen. Gern würde ich 8 
Wochen für "Nichts" schaffen, wenn ich aus diesem Dreck 'raus- 
käme. Ihr braucht Euch deshalb keine Kopfschmerzen zu machen, 
denn das waren nur ein paar Kleinigkeiten, die ich Euch 
mitteilen wollte. Das andere darf man nicht schreiben. Ich will 
jetzt schließen mit der Hoffnung, daß ich bald etwas von Euch 
hören werde. 

Mit Gottes Segen nehmen wir alles hin, was von uns verlangt 
wird. Möge dieser Krieg bald ein Ende nehmen. Es grüßt Euch 
recht herzlich Euer Sohn Heinrich. Auf ein gesegnetes Wieder- 
sehen in der Heimat.


Zusammen mit der Todesnachricht wurde der Familie ein kleines Foto aus dem persönlichen Nachlass von Heinrich zugestellt. Bis heute wissen wir nicht, um wen es sich diesem jungen Mädel handelt: 

So etwa trafen die Sachen in der Heimat ein: 


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